Meine Mutter, Helga Selenz, wurde am 8. Juni 1923 in Gudensberg/Hessen geboren. Sie war das
zweite Kind des Wagnermeisters Konrad Brede und seiner Frau Wilhelmine. Mit ihrer Schwester
Hildegard und dem jüngeren Bruder Hans war sie ihr Leben lang innig und herzlich verbunden.
Die Familie lebte in einem alten Fachwerkhaus, in dem sich auch die Werkstatt des Vaters befand.
Um die Familie zu ernähren, wurden im Untergeschoss Schweine, Hühner und Ziegen gehalten.
Die Ziegen mussten die Kinder zum Hüten in den Garten bringen. Dort baute man auch Kartoffeln,
Obst und Gemüse an. Das Leben im Norden Hessens war in jenen Zeiten hart und bescheiden.
Helga besuchte die Volksschule und die höhere Privatschule in ihrer Heimatstadt. 1937 wechselte
sie zur Jakob Grimm Schule in Kassel. Dort machte sie nach Ausbruch des Krieges mit 17 Jahren
Abitur. Den Arbeitsdienst absolvierte sie auf einem Bauernhof bei Battenberg im Kellerwald. Anschließend
leistete sie Kriegshilfsdienst im Lazarett IV in Frankfurt/Main. Sie wollte Ärztin werden.
Das Medizinstudium konnten ihr die Eltern jedoch nicht finanzieren. So wurde sie Lehrerin. In der
Lehrerinnenbildungsanstalt in Koblenz legte sie im März 1943 ihre 1. Prüfung ab. Am 1. April 1943
teilte man ihr die Schulstelle in Gleichen Krs. Fritzlar-Homberg zu. Mit 19 Jahren unterrichtete sie
mehr als 40 Schüler in acht Jahrgängen einer einklassigen Dorfschule. 1947 legte sie die 2. Prüfung
ab und heiratete im Oktober 1950 den Lehrer Werner Selenz, meinen Vater. Ihm überlie. sie ihre
Schulstelle. Fortan widmete sie sich dem Aufbau unserer kleinen Familie. Mit Vaters neuer Anstellung
zogen wir 1952 in das Lehrerhaus in Haddamar bei Fritzlar. Dort gab es zwar Strom und
Wasser, anfangs aber weder Bad noch Toilette. Aufs Plumps-Klo ging man über den Hof. Werktags
wurde nur mit dem großen Küchenherd geheizt. Es gab ja Wärmflaschen. Im Winter blühten Eisblumen
an allen Fenstern. Zum Badetag am Samstag erhitzte Mutter Wasser in großen Töpfen auf
dem Herd, um es dann in die Zinkwanne zu gießen - mitten in der Küche. Kartoffeln, Obst und
Gemüse baute man im Lehrergarten an und verwahrte es direkt oder in Einweckgläsern im Keller.
Dort lagerten auch das Holz und die Kohle. Nachdem meine jüngere Schwester in die Schule kam,
begann Mutter wieder mit dem Schuldienst - als Sonderschullehrerin. Die Familie sollte ein eigenes
Haus haben und die Großeltern brauchten Unterstützung. Vaters Verdienst reichte dazu nicht aus.
Nun musste Mutter jeden Morgen 10 Kilometer fahren. Zuvor heizte sie im Winter den Herd an und
bereitete das Frühstück. Zurück von der Schule kochte sie das Mittagessen, besorgte den Haushalt
und achtete darauf, dass wir unsere Hausaufgaben machten. Am Wochenende gab es stets Kuchen
– selbstgebacken! Ihr Arbeitstag dauerte nicht selten 16 Stunden und mehr. Tagein tagaus, Jahr für
Jahr. Die Arbeit in der Sonderschule bereitete ihr dennoch viel Spaß, auch wenn sie dafür nicht
immer den nötigen Respekt erfuhr. So antwortete die Mutter einer Schülerin auf die Frage, was die
Kleine denn einmal werden wolle: „Lehrerin.“ Als meine Mutter daraufhin erstaunt aufblickte,
ergänzte die Frau beschwichtigend: „Ja, aber nicht so eine Richtige – nur so eine wie Sie.“
Den Bau des Hauses managte sie ebenfalls mit Bravour. Das entstand im großelterlichen Garten in
Gudensberg. Mutter hatte jede Handwerkerrechnung im Kopf und teilte das Geld zu. Mit dem Umzug
1965 ins neue Haus gab es nun eine Zentralheizung, ein richtiges Bad und sogar zwei Toiletten.
Nach ihrer Pensionierung standen die Enkelkinder im Mittelpunkt ihres Interesses. Auch die Arbeit
im Garten machte ihr weiterhin Freude. Vor Mutters 80. Geburtstag wurde erstmals das Nachlassen
ihrer geistigen Kräfte erkennbar. Sie fürchtete sich vor dem Trubel, den eine solche Feier mit sich
bringt und sagte den Termin im Restaurant kurzerhand ab. Doch die Feier fand statt und brachte
Verwandte, Freunde und Bekannte in großer Zahl zusammen. Auch Mutter hatte ihren Spaß an der
fröhlichen Runde. Schleichend, aber unerbittlich zeigte sich in der Folge ihre zunehmende Demenz.
Als Vater 2005 starb, konnte sie nicht mehr allein in dem nun zu großen Haus leben. Nach drei Jahren
der heimischen Betreuung bedurfte sie inzwischen der Pflege rund um die Uhr. Im Altenpflegeheim
St. Elisabeth in Fritzlar wurde sie sehr persönlich und liebevoll betreut. Doch ihr Geist wurde
schwächer und schwächer. In den letzten beiden Jahren suchte man immer wieder verzweifelt nach
Zeichen des Erkennens. Immer öfter jedoch wanderten ihre Augen leer und ziellos im Raum umher.
Am 24. Oktober 2013 schlief Mutter in Fritzlar für immer ein. Doch Lehrer, sagt man, leben in ihren
Schülern weiter. Helga Selenz lebt mithin fort in ihren Kindern und in vielen hundert Schülern.
Peine, den 29. Oktober 2013 gez.: Prof. Dr.-Ing. Hans-Joachim Selenz